08.04.2024

Handelsblatt | Das können Sie aus der Antike für Ihre Anlagestrategie lernen

Handelsblatt, 08.04.2024

Von Markus Hinterberger

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Georg von Wallwitz verwaltet über 2,8 Milliarden Euro und liebt die Antike. Warum Mythen und Sagen uns viel übers Investieren verraten und wie Anleger ohne Furcht Gewinne machen können.

 

München. Georg von Wallwitz hat den Pullover abgelegt, die Sonne scheint in sein Büro, die Fenster sind geöffnet, gelegentliches Hupen dringt von der Münchner Maximilianstraße nach oben.

Der Fondsmanager hat gerade ein virtuelles Wettrennen gegen zig andere Opernfans gewonnen. Er hat Premierenkarten für „Tosca“ in der wie so oft binnen Minuten ausverkauften Bayerischen Staatsoper ergattert.

Durchatmen, ein Glas Wasser, zwei Sätze übers Musiktheater und los gehts.

 

Herr von Wallwitz, in Ihrem Buch „Odysseus und die Wiesel“ beschreiben Sie den griechischen Sagenhelden als ein Vorbild für Anleger. Was würde er in einer Marktlage wie der aktuellen tun?
Odysseus hätte heute auch Aktien, wäre aber auch nicht voll investiert.

Warum?
Die Figur Odysseus ist jemand, der immer die pragmatische Lösung sucht. Er ist auch einer, der seine Wetten absichert. Er wollte den Gesang der Sirene hören, hat sich aber an den Mast fesseln lassen. Und er hat nie den großen Versprechungen getraut. Ihm wurde von der Nymphe Kalypso die ewige Jugend versprochen …

… aber er hat abgewunken und weiter versucht, nach Hause zu kommen. Was ist denn heute das größte Versprechen am Kapitalmarkt?
Momentan ist das ganz klar alles, wo es um Künstliche Intelligenz, also KI, geht und wer den größten Chip hat. Es ist aber noch vieles unklar. Wo wir in drei, vier Jahren stehen, weiß niemand. Es erinnert vieles an die späten 1990er-Jahre als jedes Unternehmen, das was mit Internet machte, plötzlich um ein Vielfaches höher bewertet war. Damals war etwa Cisco das wertvollste Unternehmen der Welt.

Wer ist denn heute Cisco?
Ich denke, das entsprechende Unternehmen ist heute Nvidia, auch wenn noch ein paar andere Unternehmen derzeit wertvoller sind. Was Cisco damals für das Internet war, ist Nvidia für KI-Anwendungen. Denn die Chips des Unternehmens sind die Grundlage für KI.

Wird die Aktie noch weiter steigen?
Ich glaube nicht, dass das so weitergeht und Nvidia seine Chips immer teurer verkaufen kann. Irgendwann sind die Kunden nicht mehr bereit, die Preissteigerungen mitzugehen. Und die Gefahr, dass andere Chiphersteller Nvidia Konkurrenz machen, ist auch gegeben.

Investieren Sie in den KI-Boom?
Ja, wir segeln da so mit. Mir hat früh in meiner Karriere einmal jemand gesagt: Wenn die Lemminge losrennen, sollte man mitlaufen, aber nicht ganz vorne, sodass man die Klippe rechtzeitig sieht.

Haben Sie Nvidia-Aktien?
Nein, und das erfüllt mich auch ein bisschen mit Verdruss. Denn diese Chance hätte ich sehen können.

Sie können ja noch einsteigen?
Um Himmels willen, nein! Da ist schon so viel in den Kursen eingepreist. Da muss ich mir immer wieder vorsagen, dass es mit Aktien wie mit der Straßenbahn ist. Da wird schon die nächste kommen.

Ist Odysseus für Sie ein Vorbild?
Ich sitze hier nicht mit der Odyssee am Schreibtisch und gebe meine Orders ab. Er ist aber eine sehr inspirierende Figur. Die Odyssee lesen macht echt Spaß. Fast noch mal mehr Spaß macht die Odyssee als Hörbuch. Odysseus ist eine spannende Figur, er ist listenreich, aber auch uneitel und als Charakter sehr modern. Ich glaube, er wäre kein schlechter Fondsmanager.

Odysseus’ Heimreise ist höflich ausgedrückt nicht langweilig. Wie wichtig ist es aus Ihrer Sicht, schon was am Markt erlebt zu haben?
Da müssen wir unterscheiden zwischen zwei Schulen. Dem quantitativen Assetmanagement, in dem es darum geht, schnell kleine Positionen zu öffnen und wieder zu schließen. Hier genügt ein Mathematikstudium. Diese Art anzulegen hat aber wenig zu tun mit dem fundamental getriebenen Assetmanagement. Da muss man eine gewisse Erfahrung haben. Gerade junge Fondsmanager laufen Gefahr, so manchem Unternehmensboss auf den Leim zu gehen.

Was war Ihr lehrreichster Fehler?
Es gab so viele. Zwei davon waren sehr teuer.

Ich höre.
Ich hatte früh Netflix. Die Aktie lief gut, aber dann haben sie ihr Abomodell umgestellt und ich bin raus, als sich der Kurs der Aktie halbiert hatte. Dann ging es aber wieder aufwärts. Dank dieser Fehleinschätzung gehöre ich zu den wenigen, die als frühe Netflix-Aktionäre kein Geld verdient haben. Das Gleiche ist mir mit Facebook passiert, als die Idee des Metaverse nicht nur mich nicht überzeugen konnte und die Aktie abstürzte. Aber dann hat Mark Zuckerberg das Ruder rumgerissen und der Aktienkurs erholte sich wieder, allerdings ohne mich. In beiden Fällen habe ich das Geschäftsmodell zu früh abgeschrieben.

Sie haben „Odysseus und die Wiesel“ geschrieben, da waren Sie schon ein paar Jahre im Geschäft. Hat Sie die Odyssee schon immer begleitet?
Ja, aber nicht als praktischer Tippgeber. Die Geschichte hat mich auch später nie wirklich losgelassen. Das Buch oder besser der Mythos hat sich nicht umsonst 2500 Jahre lang gehalten, man kann es in jedem Lebensalter mit Gewinn lesen. Ich habe ein paar Bücher, die ich alle zehn Jahre lese, da gehört die Odyssee dazu.

Welche Bücher gehören da noch dazu?
Dantes „Göttliche Komödie“, aber auch „Krieg und Frieden“ von Tolstoi. Letzteres ist ein ganz fantastisches Buch. Danach müssen Sie im Grunde kein anderes Buch mehr lesen. Wenn Sie einmal ein Buch lesen wollen, in dem Sie etwas über jede Gefühlslage, die ein Mensch haben kann, lesen wollen, dann ist es „Krieg und Frieden“.

Bei russischen Autoren fällt mir noch „Der Spieler“ von Dostojewski ein, das ist etwas schneller konsumierbar als „Krieg und Frieden“.
Das ist auch ein tolles Buch, aber wie würde das denn ausschauen, wenn ich in meinem Job dieses Buch als Inspirationsquelle sehen würde?

Vielleicht eher als Abschreckung.
Da bin ich bei Ihnen.

Helfen Dante und Tolstoi Anlegern auch?
Nicht direkt, aber Sie erzählen viel über die Psyche des Menschen. Insbesondere Dante beschreibt im Inferno sehr treffend die unterschiedlichen menschlichen Leidenschaften. Warum wer wegen welcher Leidenschaften in der Hölle landet.

Wie viel Psychologie gibt es an der Börse?
Ein Teil der Börse ist rational. Da geht es um Zahlen und Fakten. Aber es hat natürlich auch viel mit Psychologie zu tun. Und bei Dante lernt man über die Psychologie fast so viel wie bei Daniel Kahneman und seiner Behavioral Finance.

Was halten Sie von Behavioral Finance? Wenn man Ihnen zuhört, müsste ein leidlich gebildeter Anleger das, was die Wissenschaft hier herausarbeitet, schon längst kennen.
Behavioral Finance ist ja nicht aus dem Nichts entstanden. Walter Bagehot, der erste Herausgeber des „Economist“, hat auch schon über den Verlust des Vertrauens an den Märkten geschrieben und wie es wieder zurückkommt. Aber ich gebe Ihnen recht. Vieles weiß man intuitiv. Ich habe meine Liste psychologischer Kriterien, mit denen ich mir die aktuellen Entwicklungen an der Börse anschaue.

Welche sind das?
Ich stelle mir Fragen wie: Kommen die Unternehmen leicht an Geld? Wie leicht kommen Unternehmen an die Börse? Herrscht eine sorglose Stimmung? Was steht in den Zeitungen?

Wann sollten Anleger vorsichtig werden?
Wenn die Analystenmeinungen zu eindeutig werden.

Wie es denn momentan? Wir haben einerseits eine eher gedrückte Stimmung im Land, aber die Börsen haussieren.
Ich glaube, da ist noch etwas Luft nach oben, aber vieles ist in den Kursen bereits eingepreist. Stimmungen können aber auch ins Gegenteil umschlagen. An der Börse gibt es da zum Glück eine Begrenzung, wenn irgendwann der Letzte verkauft hat, dreht der Markt auch wieder nach oben.

Das heißt, am Ende des Tages sind die Märkte dann doch effizient, trotz all des Wahnsinns, der sich zwischenzeitlich breitmachen kann?
Langfristig sind die Märkte effizient. Eine gute geführte Firma wird am Ende erfolgreich sein und die Aktie wird steigen.

Aber manchmal werden gute Firmen in eine Art Sippenhaft genommen und die Aktie fällt, obwohl die fundamentalen Zahlen ganz anders aussehen.
Da kommen gute Fondsmanager ins Spiel, die auch mal gegen den Trend kaufen oder an einer Aktie festhalten, wenn sie wissen, dass die Abwertung irrational ist. Aber man muss auch wissen, dass man an der Börse nicht immer alles unter Kontrolle hat.

Was hat man denn unter Kontrolle?
Den Anlageprozess. Wenn ich konkrete Parameter habe, die mir helfen, gute von schlechten Aktien zu unterscheiden, hilft mir das in Zeiten sinkender Kurse ungemein.

Diesen Prozess haben Privatanleger oft nicht. Ist das auch der Grund, warum so viele Menschen auf ETFs setzen und dem Markt vertrauen?
ETFs sind für viele Anleger als Baustein sehr sinnvoll.

Machen ETFs Ihre Arbeit überflüssig?
Darüber habe ich lange nachgedacht. Mir ist dann der Vergleich mit der Malerei im 19. Jahrhundert gekommen, als die Daguerreotypie aufkam. Dieser Vorläufer der Fotografie war schneller, genauer und günstiger als die Maler. Sie hat die Maler, die trotzdem weitergemacht haben, dazu gezwungen, sich neu zu erfinden und etwas zu machen, das einzigartig war. Und so ist es auch im Fondsgeschäft. Viele Fonds sind vom Markt verschwunden, denn irgendwo muss das Geld in den ETFs ja auch herkommen. Und auf der anderen Seite gibt es aktiv verwaltete Fonds, die wachsen, weil sie nicht nur eine gute Rendite erzielen, sondern auch nach einem bestimmten Weltbild anlegen, in dem die Anleger sich wiederfinden.

Das heißt, Sie bestärken Menschen in ihrem Weltbild?
Wenn Sie das so wollen. Ich schaue mir auch manchmal an, was unsere Kunden in ihren Depots haben, und bekomme da ein Gefühl von deren Weltbild vermittelt. Wenn jemand stark in Windparks investiert, wird der wohl ein anderes Weltbild haben als einer, der sein Geld in Sparbriefe steckt, oder als einer, der Gold im Keller hat und Vorräte hortet, falls der große Krieg kommt.

Was halten Sie von dem Wunsch, Volatilität ausschalten zu können.
Das können Sie machen, wenn Sie nur in Festverzinsliche gehen. Ich stelle dann die Frage: „Wollen sie acht Prozent mit Schwankungen oder zwei Prozent und dabei gut schlafen?“ Ebenso wichtig ist aber die Frage, wie lange ein Fonds unter Wasser ist. Viele der stark gehedgeten Fonds fallen nicht so tief wie unserer, sie bleiben aber viel länger im Minus, während wir schon wieder im Plus sind.

Spüren Sie bei Ihren Kunden eine Angst, etwas zu verpassen?
Nein, denn sie haben in den letzten Jahren gut verdient und die meisten wissen aus Erfahrung, dass die nächste gute Aktie in jedem Fall kommt. Aber Sie können zig Bücher zur Börsenpsychologie lesen. Sie sind nicht davor gefeit, Fehler zu machen.

Was hilft, diese Fehler zu vermeiden?
Reflexion und nicht den entgangenen Chancen nachzuweinen. Einen erprobten und passenden Anlageprozess zu haben. Dann werden Sie nicht jede Chance nutzen, aber auf lange Sicht, werden sie mehr Chancen nutzen als auslassen. Und Sie können auch besser durch Crashs kommen.

Wie lange haben Sie gebraucht, um sich wohlzufühlen?
Es hat etwa zehn Jahre gebraucht, den Investmentprozess zu etablieren. Aber die Wirtschaft ist ein lebendiges Ding und manche Unternehmen bekommen hausgemachte Probleme oder können im Markt nicht mehr mithalten. Dann fühle ich mich unwohl und dann muss etwas passieren.

Muss oft etwas passieren?
Nein, es gibt Aktien wie Amazon und Nestlé, die ich schon immer im Fonds habe. Und ganz generell schichten wir selten um. Der Investmentprozess ändert sich praktisch gar nicht mehr.

Merken Sie sich die Einstandskurse und machen irgendwann Ihren Schnitt, wenn der Kurs eine gewisse Höhe erreicht hat?
Das mache ich gar nicht. Ich notiere mir nicht einmal die Einstandskurse. Ich halte auch nicht viel davon, eine Aktie, die gefallen ist, so lange zu halten, bis ich wieder meinen Einstandskurs habe. Warren Buffett hat das sehr schön ausgedrückt, indem er sagte „Ich muss nicht die Treppe hinaufgehen, die ich runtergegangen bin.“ Das ist übrigens ein Fehler, den viele Anleger machen.

Was machen Sie, wenn eine Aktie fällt?
Ich frage mich, ob ich etwas nicht verstanden habe oder ob der Markt, also alle anderen, übertreiben.

In Ihrem Phaidros-Fonds ist unter den größten Positionen nur ein deutsches Unternehmen, nämlich Linde. Mögen Sie keine deutschen Aktien?
Die wichtigsten Branchen dieses Landes sind Automobile, Maschinenbau und Chemie. Das sind alles nicht die Wirtschaftszweige, die das Zeug zu großem Wachstum haben. Wenn ich Unternehmen suche, die die Digitalisierung vorantreiben, finde ich sie in den USA. Wenn ich Luxus will, werde ich in Frankreich fündig, und Pharmaunternehmen gibt es in der Schweiz. Deutschland würde ich nicht abschreiben, aber das Land braucht wohl wie immer erst mal eine dicke Krise, damit es sich wieder seiner Stärke besinnt.

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