05.06.2023

Börsenblatt | David gegen Goliath mit Schumpeter

Das Tal von Elah liegt zwischen der Mittelmeerküste und dem judäischen Bergland. Durch eine Laune des Schicksals wurde es häufig zu einem Schauplatz berühmter Kämpfe. Saladin besiegte dort die Kreuzritter. Die Makkabäer führten dort den Aufstand gegen das Seleukidenreich an. Und David erschlug dort Goliath.

Das Alte Testament berichtet von den Armeen der Philister und Israels, die auf den Hügelketten beiderseits des Tals Aufstellung genommen hatten. Allerdings wagte keiner der beiden Kriegshaufen den ersten Schritt, denn das hätte zunächst einen Abstieg in den Talgrund bedeutet und dann einen Angriff bergauf – und das wollte keine von beiden Seiten wagen. So standen sie einander tagelang gegenüber und tauschten nichts aus als Beleidigungen. Schließlich hatten die Philister genug und griffen auf eine alte Tradition zurück, wonach eine Schlacht ohne großes Blutvergießen entschieden werden kann, indem zwei Krieger sich stellvertretend für ihre Kameraden die Köpfe einschlugen oder abtrennten.

In der Bibel ist die Szene so beschrieben: „Da trat aus dem Lager der Philister ein Vorkämpfer namens Goliath aus Gat hervor. Er war sechs Ellen und eine Spanne groß. Auf seinem Kopf hatte er einen Helm aus Bronze und er trug einen Schuppenpanzer aus Bronze, der fünftausend Schekel wog. Er hatte bronzene Schienen an den Beinen und zwischen seinen Schultern hing ein Sichelschwert aus Bronze. Der Schaft seines Speeres war (so dick) wie ein Weberbaum und die eiserne Speerspitze wog sechshundert Schekel.“ (1 Samuel 17, 4-7)

Aus dem Volk Israel wollte dieser Kampfmaschine zunächst niemand entgegentreten, bis schließlich David, ein Hirtenjunge aus dem Oberland, sich hervorwagte. Dieser hielt sich nur zufällig bei der Armee auf, denn sein Vater hatte ihn geschickt, um seinen Brüdern Verpflegung zu bringen. Der König Saul hielt diesen Schritt für gewagt, hatte aber keine bessere Idee. David war sicher, der Herr werde ihn erretten, denn Goliath verhöhnte das Volk Israel, was Gott gewiss nicht billigte. Der Hirtenjunge bewaffnete sich mit seiner Steinschleuder, mit der er im Berufsalltag nach eigenen Angaben bereits Löwen und Bären erlegt hatte. Der Rest ist Geschichte: Goliath „sah und schaute David an, verachtete er ihn; denn er war ein Knabe, bräunlich und schön. Und der Philister sprach zu David: Bin ich denn ein Hund, dass du mit Stecken zu mir kommst? und fluchte dem David bei seinem Gott und sprach zu David: Komm her zu mir, ich will dein Fleisch geben den Vögeln unter dem Himmel und den Tieren auf dem Felde! David … griff in seine Hirtentasche, nahm einen Stein heraus, schleuderte ihn ab und traf den Philister an der Stirn. Der Stein drang in die Stirn ein und der Philister fiel mit dem Gesicht zu Boden. ... Dann lief David hin und trat neben den Philister. Er ergriff sein Schwert, zog es aus der Scheide, schlug ihm den Kopf ab und tötete ihn. Als die Philister sahen, dass ihr starker Mann tot war, flohen sie.“ (1 Samuel 17, 42-51)

Das also ist die Geschichte von David gegen Goliath, vom kleinen chancenlosen Hirtenjungen, der gegen alle Wahrscheinlichkeit und mit Gottes Hilfe den großen und mächtigen Krieger überwindet. Eine Geschichte, an der wir uns bis heute erbauen und an die wir jedes Mal erinnert sind, wenn ein Großer ins Straucheln gerät und vom Underdog besiegt wird. Wenn also beispielsweise die Russen in der Ukraine verlieren oder der FC Bayern (vielleicht, eines Tages) nicht Deutscher Meister wird.

Aber an der Interpretation dieser Geschichte ist bei näherer Betrachtung fast alles falsch. Genau genommen hatte Goliath nie eine Chance. Es gab in biblischer Zeit drei Waffengattungen. Infanteristen wie Goliath, zu Fuß mit Speer und Schwert bewaffnet, gut gepanzert aber kaum beweglich. Diese waren den Reitern überlegen, die sie mit ihren Speeren leicht aufspießen konnten. Die Reiter wiederum waren den Bogenschützen und Steinschleuderern (der biblischen Artillerie) überlegen, für die es schwierig war, ein bewegliches Ziel zu treffen. Artilleristen wie David hingegen waren Infanteristen wie Goliath überlegen, da sie diese als unbewegliches Ziel aus der Ferne gut bekämpfen konnten.

Indem David also die Regeln des Kampfes änderte und nicht zum Schwertkampf gegen Goliath antrat (was dieser zweifellos erwartet hatte), verschaffte er sich einen erheblichen Vorteil. Der riesige Goliath hatte keine Möglichkeit, auch nur in die Nähe seines Gegners zu kommen und seine Körpergröße und -kraft auszuspielen.

Moderne Mediziner vermuten, dass Goliaths Größe dadurch zu erklären ist, dass er an Akromegalie litt, einer Krankheit, die durch übermäßige Produktion von Wachstumshormonen verursacht wird und dazu führt, dass die Extremitäten immer weiterwachsen und riesig werden. Diese Krankheit geht allerdings mit einer erheblichen Sehschwäche einher, auf die auch Goliaths Rede hindeutet. Er spricht von mehreren Stecken, die David zum Kampf mitgebracht habe, wobei er gewiss nur einen einzigen Schäferstab dabeihatte. Und er fordert David auf, näher zu kommen – wahrscheinlich weil er ihn nicht deutlich sah.

Die Geschichte von David und Goliath lässt sich demnach so erzählen: Goliath war als schwer gepanzerter Infanterist ein leichtes Opfer für David. Er konnte seinen Gegner, der kurzerhand die Spielregeln geändert hatte, nicht einmal sehen. Der Stein, den David präzise auf die einzig verwundbare Stelle abschoss, hatte, wie es israelische Militärexperten nachgerechnet haben, beim Eindringen in Goliaths Schädel etwa dieselbe Wucht wie eine Kleinkaliber-Kugel. Goliath hatte nie eine Chance. (Wie im letzten Jahr viele russische Panzer den ukrainischen Panzerabwehrraketen ausgesetzt waren, deren Schützen sie nie gesehen hatten).

Was lernen wir daraus? Wir brauchen die Geschichte nicht, um zu wissen, dass in allen Lebensbereichen reihenweise Goliaths erschlagen werden oder sich selbst ein Bein stellen. Das gilt insbesondere auch in der Wirtschaft und damit am Kapitalmarkt. Zu den 10 wertvollsten Unternehmen im Jahr 2000 zählten General Electric, Nokia, Lucent, Cisco, Intel und IBM. Es gibt sie zwar fast alle noch, aber sie spielen keine Rolle mehr an der Börse. Nokia und Lucent, die mittlerweile ihr Geschäft zusammengelegt haben, kommen auf eine Marktkapitalisierung, die etwa 1% des Börsenwerts von Apple entspricht (das um die Jahrtausendwende ein David war). Joseph Schumpeter hat zu Anfang des 20. Jahrhunderts den Prozess der schöpferischen Zerstörung beschrieben, bei dem junge Unternehmen, die ein neues Produkt oder eine neue Produktionsweise oder einen neuen Vertriebsweg entwickeln, die alten unbeweglichen Platzhirsche verdrängen und selbst die dominante Position einnehmen. Das ist nichts weiter als die Übertragung der biblischen Geschichte auf die Bedingungen des modernen Kapitalismus.

Bemerkenswert an der Geschichte von David und Goliath ist vielmehr, wie der Underdog sich durchgesetzt hat. Er hat die Spielregeln verändert, indem er sich nicht auf einen Kampf mit Schwert und Speer einließ. Steve Jobs hat die Spielregeln verändert, indem er mit dem iPhone die bis dahin getrennten Produktkategorien Computer und Mobiltelefon zusammenlegte. Jeff Bezos hat die Spielregeln im Einzelhandel neu und zu Amazons Vorteil erfunden. Elon Musk hat das Automobil um seine Software herum gebaut, anstatt um den Motor, wie die deutschen Automobil-Riesen es über 100 Jahre lang gewohnt waren.

Und Goliath wollte und konnte sich nicht auf die neuen Gegebenheiten einstellen. Dabei dürfte seine bis dato wohl makellose Kampfbilanz eine Rolle gespielt haben.

Noch ein Aspekt ist bemerkenswert: David wusste auch die eigenen Schwächen zu seinem Vorteil zu nutzen. Er hatte keine Rüstung, war schutzlos, sah darin aber den Vorteil der Beweglichkeit. Ingvar Kamprad (der „IK“ aus „IKEA“) hatte in den 1950er-Jahren erkannt, dass ein großer Teil der Kosten in der Möbelindustrie durch den Transport sperriger Produkte entsteht. Mit seinen Möbeln zum Selbstaufbau konnte er daher die Konkurrenz unterbieten und rasch Marktanteile gewinnen. Die schwedische Möbelindustrie reagierte, indem sie sich weigerte, für IKEA zu produzieren. Kamprad stand plötzlich mit dem Rücken zur Wand und war gezwungen, schnell zu reagieren. Er identifizierte unweit seiner Heimat, am Südufer der Ostsee, ein Land mit viel Holz und Arbeitskraft: Polen. Dorthin verlagerte er 1961 einen großen Teil der Produktion. Diese Idee war extrem unkonventionell, denn kein anständiger Kapitalist wäre zu dieser Zeit auf die Idee gekommen, sich vom sowjetischen Machtbereich abhängig zu machen. Zur Erinnerung: 1961 wurde in Berlin die Mauer gebaut. IKEA ignorierte die Konventionen, senkte durch den Schritt nach Polen die Produktionskosten noch weiter und verwandelte die eigene Schwäche in eine Stärke.

Diese Geschichten erklären auf einer tieferen Ebene aber auch, warum es nicht einfach ist, ein David zu sein. In den 1960er-Jahren auf Polen zu setzen oder in den 2000ern gegen Nokia und Microsoft anzutreten, war ebenso gewagt wie die Hoffnung, dass keine der großen Kaufhausketten auf die Idee kommen würde, ihre Logistik und Lieferketten wenigstens zum Teil für den Online-Handel zu nutzen. Unkonventionelles Denken und Handeln führt nicht automatisch zum Ziel. Die Liste der Unternehmen, die bei dem Versuch gescheitert sind, einen Goliath zu erlegen, ist lang. Adam Neumann hat mit WeWork das Büro nicht neu erfinden können. Facebook hat uns bisher nicht ins Metaversum entführt. Der Nutzen von Kryptowährungen bleibt im Wesentlichen auf Geldwäsche und Nervenkitzel beschränkt. Die SPAC-Mode ist mit der Erkenntnis zu Ende gegangen, dass in der Regel nur die Sponsoren dieser Konstruktionen Geld verdient haben, nicht aber die Anleger.

Welche Aktien würde David kaufen? Er hätte sicher einige Goliaths (Standardwerte) im Portfolio, denn er wusste, dass sich diese sich in der Regel nicht leicht verdrängen lassen – und jedenfalls nicht so schnell, wie in seinem Fall. Bei den kleinen und innovativen Unternehmen im Portfolio würde er auf Beweglichkeit, Sparsamkeit und eine klare Vision achten. Adressieren sie ein echtes Bedürfnis und lässt sich ihr Produkt kopieren oder ersetzen? Verdienen sie an der ganzen Wertschöpfungskette – und kontrollieren sie diese, fast wie ein Goliath?

In der Praxis lassen sich Standardwerte leicht identifizieren. Die eine Kunst im Portfoliomanagement besteht daher darin, frühzeitig zu erkennen, ob sie auf tönernen Füßen stehen, oder ob es einem anderen Unternehmen gelingt, ihnen das Wasser abzugraben. Ob es hingegen einem jungen Unternehmen tatsächlich gelingt, an der richtigen Stelle anzusetzen (wie David den Stein an die einzige ungepanzerte Stelle zu schleudern) und dann das Geschick und die Ausdauer und die Vision haben, um selbst ein Blue Chip zu werden – das ist die andere Kunst.

Und drittens, schließlich, lässt sich aus der Geschichte mitnehmen, dass zwischen David und Goliath nicht viel Platz ist. Entweder man tritt gut gepanzert und gut bewaffnet an, oder man ist sehr beweglich und hat einen genauen Plan. Dazwischen ist nicht viel Platz für die halb gut Beweglichen, die mäßig Gepanzerten und die kaum Bewaffneten. Wäre David nicht ein so guter Schütze gewesen und hätte in die Reichweite von Goliaths Speer vorrücken müssen, wäre die Sache wohl anders ausgegangen. Und hätte Goliath sich seinen Helm nicht so lässig in den Nacken geschoben und die Stirn freigelegt, würden wir heute in der Bibel etwas ganz anderes lesen.

Die Geschichte vom ungleichen Kampf im Tal von Elah passt damit gut zur Entwicklung an der Börse in diesem Jahr. Das Börsenjahr war so weit gut, die europäischen Aktienmärkte haben im Durschnitt um 10 % zugelegt, die amerikanischen liegen nur knapp dahinter. Diese Entwicklung ist zu einem großen Teil die Umkehr der Trends vom letzten Jahr: Technologiegiganten stehen 2023 ganz vorne, während Energie- und Rohstoffaktien die hinteren Plätze belegen. Nach den extremen Bewegungen des Vorjahres ist die Entwicklung in diesem Jahr auch eine gesunde Korrektur von Übertreibungen. Die Trends des letzten Jahres wurden maßgeblich von der Zinsentwicklung getrieben, die wiederum eine Reaktion auf die hohe Inflation war. Und so ist die Kehrtwende in diesem Jahr auch damit zu erklären, dass die Märkte mit einem deutlichen Abflauen der Inflation und einer damit einhergehenden Zinswende rechnen. Das mag ausgesprochen optimistisch sein, soweit es Ausdruck einer Inflationserwartung ist. Aber das Umfeld bevorzugt heute wieder die Oligopolisten und ihre Herausforderer: Das Wachstum bleibt schwach, eine aktuelle Rezession wird insbesondere die Unternehmen treffen, die teurer produzieren als die Konkurrenz oder deren Produkte sich leicht substituieren lassen oder die ganz verzichtbar sind.

Im letzten Jahr sind Herausforderer und Oligopolisten unter die Räder gekommen und die Weder-Noch-Unternehmen hatten ein Jahr an der Sonne. In diesem Jahr sieht es wieder anders aus. Nun richten sich wieder alle Blicke auf David und Goliath.

 

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Dr. Georg von Wallwitz
Dr. Georg von Wallwitz

Geschäftsführender Gesellschafter | Lead Portfoliomanager

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