Zum Jahresauftakt sind für uns zwei Fragen besonders relevant: Wohin dreht der Makro-Zyklus nach zwei Jahren des inflationären Wachstums und wo liegt das „neue Normal“ der Zinsen? Und bleiben die Wachstumstrends der vergangenen Jahre auch 2024 die dominanten Treiber oder ist ein Spurwechsel angeraten? Die Antwort fällt differenziert aus. Nach dem Durchschreiten eines Konjunkturtals im Winterhalbjahr dürfte sich die Nachfrage in vielen Regionen der Welt wieder erholen. Das „neue Normal“ der Zinsen dürfte unter dem aktuellen Niveau, aber über dem der vergangenen Jahre liegen. Dennoch werden die großen Trends der digitalen Welt und des Gesundheitssektors wohl erneut die Marktdynamik dominieren, wenn auch etwas weniger aufgeregt begleitet als im letzten Jahr. Bei allen Unwägbarkeiten könnte das Fazit zumindest aus Investorensicht am Ende des Jahres deshalb heißen: 2024 hat sich in etwa so angefühlt wie 2023, nur etwas stabiler. Zumindest für Anleger mit entsprechendem Weitblick sind das gute Aussichten.
Im vergangenen Jahr ist die US-Wirtschaft erneut um etwa 2,5% gewachsen. In Europa hat das Bruttoinlandsprodukt dagegen kaum mehr als stagniert. Für das Jahr 2024 erwarten wir ein ähnliches Ergebnis. Dahinter steht aber eine dynamische Wellenbewegung der Konjunktur. Denn über das Winterhalbjahr dürfte die gesamtwirtschaftliche Nachfrage in beiden Regionen zunächst spürbar nachlassen. Die lang erwartete Rezession fällt in den USA aber (milde) aus. Europa wird wohl erst im Sommer wieder positive Wachstumsraten ausweisen.
Die Gründe für die auch 2024 wohl robustere Entwicklung der US-Wirtschaft sind auf der Angebots- wie auf der Nachfrageseite zu finden. So liegt das Wachstumspotenzial in den USA relativ stabil bei etwa 2% p.a. In Deutschland ist es auf nur noch 0,5% gesunken. Die schwache Entwicklung von Bevölkerung und Arbeitsvolumen, der veraltete Kapitalstock und eine stark verbreitete Vollkaskomentalität bremsen die Dynamik. Gleichzeitig wird die Nachfrage in Europa stärker durch die Geldpolitik gedämpft. Denn mit 4% liegt der Leitzins zwar absolut unter dem Niveau in den USA. Gleichwohl wirkt er deutlich bremsender, da sich die Finanzierungskonditionen der Wirtschaft stärker verschärft haben und gleichzeitig das natürliche Zinsniveau niedriger liegt. Zudem fällt auch der Kurs der Fiskalpolitik in Europa restriktiver aus. Während hierzulande der Defizitabbau trotz Konjunkturschwäche Priorität gewinnt, bleibt der Kurs der Fiskalpolitik in den USA durch das politische Patt und die nahende Präsidentschaftswahl quasi unverändert. Das US-Haushaltsdefizit dürfte 2024 erneut bei etwa 6% liegen, in Europa ist ein Rückgang um rund 1 Prozentpunkt auf etwa 3% zu erwarten.
Im weiteren Jahresverlauf sehen die Aussichten auf eine konjunkturelle Belebung in beiden Regionen dann gut aus. In Europa spricht der Rückgang der Inflation für eine Erholung der realen Kaufkraft und ein Comeback des Konsums. In den USA ist trotz höherer Zinsen von einem Investitionszyklus auszugehen. Denn die US-Unternehmen haben auch in der Vergangenheit in Phasen restriktiverer monetärer Konditionen deutlich stärker investiert. Dies liegt vor allem an dem deutlich höheren Anteil von Investitionen in „geistiges Eigentum“ und insbesondere in Software. Sie machen bereits 40% der gesamten Investitionstätigkeit in der USWirtschaft aus und sind gleichzeitig deutlich weniger zinssensitiv als Investitionen in Maschinen und Gebäude. Unter dem Strich dürfte das reale Wachstum in den USA 2024 bei etwa 2% liegen, in Europa bei etwa 0,5%.
Voraussetzung für eine derart milde Rezession mit anschließender Erholung ist, dass sich die Inflation schrittweise weiter zurückbildet auf ein Niveau, welches von den Notenbanken und der Gesellschaft mittelfristig toleriert werden kann. Dieser Prozess dürfte in Europa rascher verlaufen, da die gesamtwirtschaftliche Nachfrage bereits spürbar nachgegeben hat. Eine rasche und vor allem nachhaltige Rückkehr zu den 2%-Zielen ist allerdings in beiden Regionen wenig wahrscheinlich. Denn die Inflationserwartungen sind zwar stabil, sie haben sich aber auf etwas höherem Niveau verankert. Die Ursachen hierfür liegen zum einen in der Erinnerung an den Inflationsschock in den vergangenen Jahren. Zum anderen in strukturellen Trends wie der demografisch bedingten Knappheit von Arbeitskräften, dem Re-Shoring von lohnintensiver Produktion und der Internalisierung von bisher externen Kosten des Energieverbrauchs. Und schließlich auch in der (zu) hohen Staatsverschuldung, welche eine stärkere Nutzung der Inflationsbesteuerung zum Abbau wahrscheinlich macht. Im Jahresdurchschnitt dürfte die Inflation in den USA deshalb nur auf etwa 3% sinken, in Europa auf etwa 2,5%.
Mit Blick auf die Geldpolitik ist die Gretchenfrage 2024 nicht mehr, wie hoch der Zinsgipfel liegt. Vielmehr steht im Fokus, wo sich das „neue Normal“ für Leitzinsen und Finanzierungskonditionen einpendeln wird, wie weit also Fed und EZB ihre Zinsen in den kommenden Jahren wieder senken werden. Neben den Inflationserwartungen spielt dabei der natürliche Realzins die entscheidende Rolle als Anker. Aktuelle Schätzungen deuten auf ein etwas höheres Niveau als in den Jahren nach der Finanzkrise hin. In Summe spricht das für ein „neues Normal“ der US-Leitzinsen im Bereich zwischen 3 und 4 Prozent, und damit mittelfristig für moderate Zinssenkungen. Angesichts der Divergenz der konjunkturellen Entwicklung und des stärkeren Abwärtsdrucks auf die Preise könnte die EZB den Zinssenkungszyklus erstmals früher beginnen als die Fed. Auch wenn ein Timing der Zinswende kaum möglich ist, zeichnet sich damit für 2024 ein monetäres Umfeld ab, in dem die großen Wachstumstrends den Finanzmarkt erneut dominieren sollten und gleichzeitig mit Kollateralschäden der bisherigen Zinswende gerechnet werden muss.
So viel zum Basisszenario. Natürlich kann auch das Jahr 2024 für Überraschungen sorgen. Während in den vergangenen Jahresausblicken meist die Abwärtsrisiken dominierten, ist unsere Chancen-Risiko-Karte für das kommende Jahr als „ausgewogen“ zu bezeichnen. Neben Inflations- und Zinsentwicklung können auch KI und Staatsfinanzen sowie die (geo-)politischen Weichenstellungen für Schlagzeilen sorgen. Mit den meisten dieser Entwicklungen dürften Wirtschaft und Finanzmärkte aber auch 2024 gut umgehen können. Wirklich relevant für Investoren könnten dagegen erneut Ereignisse und Entwicklungen sein, die nicht auf unserer Chancen-Risiko-Karte auftauchen. Die sogenannten „unknown unknowns“ bzw. „schwarzen Schwäne“.