Herr von Wallwitz, das vergangene Jahr war geopolitisch von Gewalt in Europa und dem Nahen Osten sowie einer möglichen Eskalation in Asien geprägt. Wie blicken Sie auf das Jahr 2023 zurück?
 

Da wir grundsätzlich Optimisten sind und der Menschheit alles zutrauen, also nicht nur das Schlechte, sollten wir diesen Rückblick mit dem Positiven beginnen. Es lässt sich durchaus eine Liste von Ereignissen erstellen, an die wir uns positiv erinnern werden.

So gab es Fortschritte bei der Bekämpfung des Klimawandels: Investitionen in fossile Energieträger machen lediglich 60% der Investitionen in erneuerbare aus und bis 2030 dürften es nur noch 10% sein. Der Zeitpunkt, an dem die Reduktion von CO2-Emissionen Wirklichkeit wird, ist zum Greifen nahe. Die Weltwirtschaft hat sich als erstaunlich robust erwiesen: Weder die Schwäche der chinesischen Wirtschaft noch der starke US-Dollar, der früher eine Krise in den Schwellenländern ausgelöst hätte, haben größere Bremsspuren hinterlassen. Und mit der Öffnung von ChatGPT für breite Anwenderschichten hat die Menschheit ein neues Werkzeug zur Verfügung, das segensreich angewendet werden kann – wenn der Anwender es nur will.

„Und mit der Öffnung von ChatGPT für breite Anwenderschichten hat die Menschheit ein neues Werkzeug zur Verfügung, das segensreich angewendet werden kann – wenn der Anwender es nur will.“

Dr. Georg von Wallwitz

ChatGPT, was sagst Du? Wie veränderst Du die Welt?

ChatGPT: Ich trage dazu bei, die Art und Weise, wie Menschen Informationen erhalten und kommunizieren, zu verändern. Obwohl ich allein die Welt nicht verändere, hoffe ich, durch unterstützende, informative Gespräche und Zugang zu Wissen einen positiven Einfluss zu haben. Die eigentliche Veränderung liegt jedoch in der Anwendung und Interpretation meiner Fähigkeiten durch die Menschen.

Mit ChatGPT ist ein regelrechter Hype um künstliche Intelligenz (KI) entstanden. Was können wir von der Technologie erwarten?

Das Versprechen der neuen KI ist enorm. Es zeichnet sich ab, dass digitale Assistenten wie Alexa und Siri tatsächlich nützlich werden könnten. Die Suche bei Google nach Informationen könnte in vielen Fällen abgelöst werden. Kreative Berufe werden es einfacher haben, denn Bilder, Videos, Texte und Programme werden zunehmend automatisch generiert, was übrigens in Hollywood bereits zum längsten Streik seit Menschengedenken der um ihre Jobs fürchtenden Autoren geführt hat. Im Gesundheitswesen und in der Entwicklung autonomer Fahrzeuge bahnen sich revolutionäre Veränderungen an.

So weit das Versprechen. Allerdings bleiben wir skeptisch interessiert, solange es noch keinen KI-gesteuerten Roboter gibt, der vernünftig staubsaugen kann. Ohnehin ist es heute schwer zu sagen, wer am Ende dieser Entwicklung das Geld verdient. Welche Modelle werden sich durchsetzen? Neben GPT-4 sind auch noch LLaMA2 (Meta), PaLM2 (Google), BLOOM (BSRW), xAI (Elon Musk) oder Chinchilla (DeepMind) am Start, um nur die wichtigsten zu nennen. Die Regulierungsbehörden werden ebenfalls ein Wort mitzureden haben und sich die Sicherheitsvorkehrungen demonstrieren lassen. So haben sich zuletzt das Europaparlament und die EU-Staaten auf Grundzüge des „AI Act“ geeinigt. Niemand – oder jedenfalls fast niemand – möchte, dass die neuen Systeme Bauanleitungen für Bio-Waffen produzieren oder zu Propagandazwecken eingesetzt werden.

 

Als Thema aus dem Vorjahr blieb uns die prekäre Situation der Staatsfinanzen und der damit einhergehenden Sorge um die Inflation erhalten. Wie blicken Sie darauf?

Die Schwierigkeiten der deutschen Bundesregierung, ihren Haushalt aus regulären Einnahmen zu bestreiten, sind nur symptomatisch für ein allgemeines Phänomen. Das Vorgehen, durch das die Schattenhaushalte („Sondervermögen“) der Regierung größer waren als der reguläre Haushalt, ist kein gutes Omen für die Zukunft. Die Europäer und Amerikaner haben in der Zeit der niedrigen Zinsen gut gelebt und Schulden gemacht in dem Glauben, man werde nie wieder hohe Zinsen zahlen müssen. Nun hat sich das Blatt gewendet. Am Beispiel der USA lässt sich das Problem gut illustrieren: Etwa die Hälfte der Staatsschulden, wir reden von 17 Billionen US-Dollar, werden bis Ende 2026 fällig und müssen refinanziert werden. Die steigenden Zinskosten werden den Haushalt erheblich belasten, der ohnehin auf einem unguten Weg ist: Der Schuldenstand ist in den letzten 10 Jahren von 72% der Wirtschaftsleistung auf 126% gestiegen.

 

Das kann nicht nachhaltig sein, oder?

Genau, irgendwann wird die Frage aufkommen, wie diese Schuldenlast finanziert werden soll, wenn gleichzeitig die Inflation und damit das nominale Wachstum sinken. Eine ähnliche Frage stellt man sich in London, Paris, Berlin, Rom und Tokio. Für die privaten Haushalte war der allgemeine Rückgang der Inflation bei einer relativ robusten Wirtschaftsentwicklung ein Lichtblick. Zum Ende des Jahres 2022 war es Konsens, dass es zu einer Rezession in den USA und Europa kommen würde. Die Kursziele der Strategen waren sehr pessimistisch. Aber am Ende ist nur in Deutschland die Vorhersage einer Rezession auch eingetreten. Die Amerikaner hatten zuletzt ein Wachstum von über 5% vorzuweisen, der Rest lag irgendwo dazwischen.

"Die amerikanischen Märkte erlebten einen deutlichen Aufschwung, der aber fast ausschließlich von sieben Aktien, den „Magnificent Seven“ – Meta, Amazon, Apple, Alphabet (Google), Microsoft, Nvidia und Tesla – getragen wurde, denen der Markt eine rosige KI-Zukunft zutraut."

Dr. Georg von Wallwitz

Ist das auch der Grund für die positive Entwicklung der Aktienmärkte in 2023?

Die europäischen Aktienmärkte profitierten von der Erleichterung darüber, dass in Europa weder die Lichter noch die Heizungen ausgingen und die Inflationsraten deutlich zurückkamen. Die amerikanischen Märkte erlebten einen deutlichen Aufschwung, der aber fast ausschließlich von sieben Aktien, den „Magnificent Seven“ – Meta, Amazon, Apple, Alphabet (Google), Microsoft, Nvidia und Tesla – getragen wurde, denen der Markt eine rosige KI-Zukunft zutraut. Ohne diese sieben Aktien hätte sich der US-Aktienmarkt 2023 kaum von der Stelle bewegt, während er mit ihnen ein hervorragendes Jahr verzeichnete.

Entsprechend hat in diesem Jahr an den Börsen nicht funktioniert, was im Vorjahr noch als sichere Sache galt. So sind in den Jahren 2021 und 2022 etwa 100 Milliarden US-Dollar in Dividenden-ETFs geflossen. Die Idee dabei lautet, dass ein Wertpapier, das in der Gegenwart viel ausschüttet, mehr Wert sein muss als ein solches, dessen Gewinne erst in ferner Zukunft zu erwarten sind, wenn sie durch die Inflation entwertet sind. Aber diese Idee ist schlecht gealtert. Wachstumstitel erlebten 2023 ein Comeback, denn Inflation und Rezession waren plötzlich kaum noch ein Thema. Und so blieb die Masse der Dividenden-ETFs über 20% hinter dem breiten Aktienmarkt zurück. Dies war eine erneute Lektion über die Gefahren des Market-Timings, mit denen die Investoren und Strategen immer wieder zu kämpfen haben.

 

Welches Resümee ziehen Sie für die Anleihenmärkte?

Die Anleihenmärkte beruhigten sich nach dem katastrophalen Jahr 2022. Die Zinsen sehen wieder etwas normaler aus als in den Vorjahren. Geld hat wieder einen Preis. Für Anleiheinvestoren sind dies gute Nachrichten, denn sie müssen, um eine Rendite oberhalb der Inflationsrate zu erzielen, nicht mehr hohe Risiken eingehen. Sie können sogar klassisch in Staatsanleihen und Pfandbriefe investieren, und dabei ihr Vermögen auch in realer Kaufkraft vermehren.

Die Kollateralschäden des vorherigen Zinsanstiegs ließen sich zunächst in einer Krise der Regionalbanken in den USA beobachten, bei denen erhebliche unrealisierte Verluste aufgelaufen waren. Sie hatten die Einlagen ihrer Kunden in Anleihen mit längerer Laufzeit investiert, die nun im Zuge des Zinsanstiegs erheblich an Wert verloren hatten. In Europa erwies sich das Bankensystem als robust, aber der Immobilienmarkt geriet in eine immer tiefere Krise, die bis heute noch nicht ausgestanden ist. Es dauerte eine Weile, bis die höheren Zinsen sich auf die Bewertungen durchschlugen, aber der Glaube, Immobilienpreise könnten immer nur steigen, ist 2023 erneut und wohl endgültig verflogen. Mit der Signa-Gruppe hat einer der großen Spieler im deutschsprachigen Immobilienmarkt Insolvenz angemeldet und es werden vermutlich noch weitere folgen.

"Die Anleihenmärkte beruhigten sich nach dem katastrophalen Jahr 2022. Die Zinsen sehen wieder etwas normaler aus als in den Vorjahren. Geld hat wieder einen Preis."

Dr. Georg von Wallwitz

Wie lief das Jahr 2023 für andere Anlageformen?

Ein turbulentes Jahr hatte die Krypto-Welt, die einst erschaffen wurde, um Unabhängigkeit von den Machenschaften der Regierungen zu erlangen. Die Krypto- Währungen haben weder das Versprechen gehalten, ein Schutz gegen Inflation zu sein – im Inflationsjahr 2022 fiel der Wert von Bitcoin gegenüber dem US-Dollar um zwei Drittel – , noch hat sich bisher eine andere Anwendung gefunden als reine Spekulation, Geldwäsche, Steuerhinterziehung und Vereinnahmung erpresster Gelder. Falls je eine sinnvolle und nachhaltige Anwendung gefunden werden sollte, wird der Krypto-König Samuel Bankman-Fried nicht mehr viel davon haben, denn er wurde für schuldig befunden, die Gelder seiner Kunden an der Kryptobörse FTX zu einem guten Teil veruntreut zu haben. Etwas glimpflicher ging es für seinen großen Konkurrenten Changpeng Zhao („CZ“) aus, den Gründer des Konkurrenzunternehmens Binance. Im November wurde das Unternehmen zu einer Strafzahlung von über vier Mrd. US-Dollar wegen unter anderem Geldwäsche verurteilt, CZ selbst „nur“ zu einer Zahlung von 50 Mio. US-Dollar.

 

In Krypto investieren Sie also auf gar keinen Fall. Bei welchen Anlagethemen sind Sie noch vorsichtig?

China bleibt für internationale Investoren eine Black Box. Das Land hat sich von einer freien Marktwirtschaft wegentwickelt und das Primat der Politik macht sich in immer mehr Branchen auf unberechenbare Weise bemerkbar. Westliche Mitarbeiter internationaler Firmen werden immer häufiger festgesetzt und die Handys von Geschäftsreisenden routinemäßig ausgelesen. Die Entkoppelung Chinas und der USA ist offensichtlich. Offen bleibt, wie sich die Welt um diese Konkurrenten gestaltet. Russland, das ohnehin nicht mehr investierbar ist, gehört zum „chinesischen Block“. Aber wie halten es die Inder, wohin tendiert Südostasien, die arabische Welt und Afrika? Der neue Kalte Krieg, der sich hier anbahnt, könnte in eine multipolare Unordnung münden.

 

Welche Anlageform bewährte sich (taktisch) im schwierigen geopolitischen Umfeld?

Das geopolitische Umfeld hat sich 2023 weiter verschlechtert, ohne dass sich dies an den Finanzmärkten nennenswert ausgewirkt hätte. Der Ölpreis blieb weitgehend stabil, nicht einmal der Krieg im Nahen Osten konnte ihn dauerhaft beeinflussen. China drohte weiterhin Taiwan, aber im November trafen sich die Präsidenten der USA und Chinas zu einem demonstrativ versöhnlichen Gespräch im sonnigen Kalifornien. Russlands Invasion in der Ukraine wurde zu einem Stellungskrieg ohne offensichtlichen Ausweg für eine der beiden Parteien. Als Puffer in der Krise haben sich 2023 immer wieder Gold und die Aktien von Ölunternehmen bewährt. Beide sind keine langfristigen Renditebringer, aber sie helfen jedes Mal wieder, die Nerven zu beruhigen, wenn die Kanonen donnern.

 

Unter welchen Vorzeichen wird das Jahr 2024 beginnen?

Was dieses Jahr bringt, steht wie immer in den Sternen. Es wird gute und böse Überraschungen geben, von denen wir heute noch nichts ahnen. Und doch müssen wir einen Ausblick und eine Weltsicht wagen, denn ohne eine solche lässt sich ebenso wenig investieren, wie ohne eine – wenigstens gelegentlich – glückliche Hand und eine solide Strategie. Den erfreulichen Ergebnissen unserer Arbeit im abgelaufenen Jahr sind die folgenden Seiten gewidmet.

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