Robin Dunbar, ein Anthropologe und Neurowissenschaftler aus Oxford, machte eine große Entdeckung, als er sich mit der Frage beschäftigte, warum Primaten so viel Zeit für die Pflege ihrer sozialen Beziehungen aufwenden.
Ihm fiel auf, dass die Größe des sozialen Umfeldes bei Tieren stark mit der relativen Größe des Neocortex im Gehirn korrelierte. Die Korrelation war so stark, dass Dunbar nicht der Versuchung widerstehen konnte, das menschliche Gehirn in diese Reihe zu stellen. Dabei kam heraus, dass der Mensch 150 („Dunbar-Zahl“ genannt) wesentliche Beziehungen unterhalten kann. Das ist etwa die Anzahl der Menschen, deren Namen wir uns merken können, deren Umstände und Freundschaftsbeziehungen wir einschätzen können, deren Geschichte wir ungefähr kennen, mit denen wir in Klatsch und Tratsch verbunden sind. Die empirischen Belege scheinen Dunbar zu bestätigen. Ein typisches Dorf in der vormodernen Zeit hatte eine Bevölkerungszahl von 150 und XING-Nutzer mit einem Netzwerk von 157 Personen bekamen die meisten Job-Angebote. Größere Dörfer benötigen eine Verwaltungsstruktur, ihre Einwohner können nicht mehr gegenseitig aufeinander aufpassen – in jeder Beziehung. Größere XING-Netzwerke verlieren mit der persönlichen Dimension die Bedeutung.
Mit etwa einem Drittel dieser Menschen können wir befreundet sein: Bei 50 liegt die Anzahl der Personen, die wir Durchschnittsmenschen gerne zum Abendessen einladen würden. Zu einem Drittel von diesen wiederum haben wir ein echtes Vertrauensverhältnis. Und ein weiteres Drittel – das sind nun noch fünf oder sechs Personen – sind unsere echten innigen Freunde. Die Zusammenstellung dieser Gruppen mag sich ändern, doch die Anzahl bleibt über die Kulturen und Zeiten hinweg erstaunlich stabil.
Hat sich die Dunbar-Zahl durch die sozialen Medien vergrößert? Gewiss ist es effizienter, wenn wir nicht mehr, wie im mittelalterlichen Dorf, nur mit einer Person sprechen, sondern durch ein Posting oder einen Tweet, je nach Anhängerschaft, zwischen einer Handvoll und einer Million Menschen erreichen. Durch Medien wie Facebook lassen sich gewiss einige Freundschaften einfacher verwalten. Aber bei etwa 500 Menschen scheint eine echte Grenze zu bestehen: Zu mehr Menschen können wir keinen Sinnbezug haben – darüber hinaus werden unsere Beziehungen mechanisch oder bloßes Spiel.Unser Gehirn ist darauf ausgelegt, nur eine begrenzte Anzahl komplexer Zusammenhänge zu begreifen; und wer so handelt, als gelte das nur für die Anderen, wird der Realität früher oder später Tribut zollen müssen. Die Börse ist da keine Ausnahme.
Derzeit verfolge ich mit großer Freude die Vorgänge um die Aktie von GameStop (einem Verkäufer von Videospielen über physische Läden), die von vielen Hedge-Fonds leer verkauft wurde (die Fonds haben Aktien verkauft, die ihnen nicht gehörten, um so von fallenden Kursen zu profitieren), zum Unwillen der videospielenden Community. In einem Forum auf Reddit, einer sehr bunten digitalen Plattform für den Austausch von Meinungen, Informationen, Memes, Albernheiten und gelegentlichen Verunglimpfungen, bildete sich der Konsens, den Hedgefonds-Managern und ihrem krawattentragenden Umfeld an der Wall Street müsse eine Lehre erteilt werden. Tausende Kleinaktionäre taten sich zusammen und kauften die Aktie, sodass der Kurs stieg und die Fonds immer größere Verluste machten. Schließlich waren die Fonds gezwungen, ihre Verluste zu begrenzen und die Leerverkäufe einzudecken. Das sorgte für zusätzlichen Kaufdruck, der die Aktie noch weiter in die Höhe trieb. Die Wall Street hatte keine Chance gegen die Kleinanleger, die sich zu einem Mob zusammengeschlossen hatten. Melvin Capital, ein großer Hedgefonds, verlor etwa die Hälfte seines Kapitals von 12,5 Milliarden Dollar.
Die Aktie von GameStop handelt heute bei 325 Dollar und damit etwa 100mal so hoch wie noch vor eineinhalb Jahren. Die mobile Masse (das ist der Ursprung des Wortes Mob) erkannte, dass sich mit dem Elend der Hedgefonds Geld verdienen lässt und versuchte sich auch an anderen Aktien. Etwa wurden alle Aktien, die ein „BB“ im Tickersymbol hatten massenhaft gekauft. Darunter waren angeschlagene (und von Hedgefonds geshortete) Unternehmen wie Bed, Bath and Byond und Blackberry, aber auch bislang unbehelligte Titel wie der Build-a-Bear Workshop.
Erratische Kursbewegungen durch online mobilisierte Kleinanleger gab es in letzter Zeit öfter. Etwa als Elon Musk, der genialische Chef eines heillos überbewerteten kalifornischen Auto- und Solaranlagenbauers mit einer gewaltigen Gefolgschaft auf Twitter, kürzlich verkündete, er würde künftig Signal nutzen (ein Konkurrenzprodukt zu WhatsApp), wurde die Aktie von Signal Advance Technologies (die analoge Signale in einer digitalen Umgebung zu verarbeiten hilft) von etwa 60 Cents auf 40 Dollar katapultiert. Das sieht nicht nach kompetenten Käufern aus. Wer vor drei Jahren schon an der Börse aktiv war, fühlt sich auch an die in Online-Foren gefeierte Cannabis-Aktie Tilray erinnert, die im Sommer 2018 zu 17 Dollar an die Börse kam, innerhalb von drei Monaten auf über 200 Dollar anstieg und heute bei 18 Dollar notiert.
Fraglos sitzen derzeit viele Menschen zu Hause, die ihr Geld nicht ausgeben können und sich furchtbar langweilen. Das ist aber nicht die ganze Geschichte. Hinzu kommt das Phänomen, dass die Dienstleistungen um die Börse, die früher einmal obszön teuer waren, heute teilweise obszön billig sind. Etwa kosten Indexfonds heute fast keine Gebühren mehr und der Handel mit Aktien auf Plattformen wie Robin Hood, Trade Republic, Charles Schwab oder Fidelity ist theoretisch kostenlos. Das ist aber nicht für alle ein Segen. Es scheint viele Menschen dazu zu verleiten, die Börse als ein Spiel, ein Kasino anzusehen. So einfach ist es aber nicht.
Die wirtschaftlichen Realitäten haben die Tendenz, sich mittel- und langfristig durchzusetzen. GameStop wächst nicht und wird mit etwas Glück 2023 wieder 125 Millionen Dollar verdienen. Das ist etwas zu wenig für die aktuelle Börsenkapitalisierung von 23 Milliarden Dollar. Das Spiel, zu dem der Börsenhandel im Zuge seiner „Demokratisierung“ geworden ist, wird in absehbarer Zeit keinen Spaß mehr machen.
Die Spieler, die jetzt Signal oder GameStop kaufen, tun dies nicht aus wirtschaftlichem Interesse, sondern weil sie es der Elite zeigen wollen (was ab und zu sein muss) oder weil sie wie im Kasino schnelles Geld machen wollen. Sie kennen die Aktien, so meine Vermutung, in der Regel nicht besser als ihren 1.500sten Facebook-Freund, sie sind ihnen kaum mehr als ein Tickersymbol.
Selbstverständlich ist es legitim, in Aktien zu investieren, deren Geschäftsmodell und Gewinnschätzungen man nicht kennt. Es gibt Trendfolger oder rein quantitativ ausgerichtete Fonds, die mit solchen mechanischen Ansätzen auch über längere Zeiträume erfolgreich sind oder waren. Aber sie haben ein System, nach welchem sie ihre Investitionsenscheidungen fällen. Ohne ein solches wird es irgendwann eng, das hat die Geschichte oft genug gezeigt. Es war jedenfalls die Erfahrung von Frederick Allen in seiner 1931 verfassten Geschichte der 20er-Jahre (Only Yesterday: An Informal History of the 1920s): „Auf den Dinner-Parties hörte man fantastische Geschichten von plötzlichen Reichtümern: ein junger Banker steckte all sein Geld in Niles-Belmont-Pond und hatte nun ausgesorgt; eine Witwe konnte ein großes Haus kaufen dank ihrer Gewinne mit Kennecott. Tausende spekulierten – und gewannen auch – ohne die leiseste Ahnung, welcher Natur das Unternehmen war, auf dem ihr Vermögen gründete, wie die Leute, die Seabord Air Line kauften in der Annahme es sei eine Luftfahrtgesellschaft.“ Seabord war aber eine Eisenbahngesellschaft. Manche Dinge ändern sich nicht. Die meisten Fehleinschätzungen wurden 1929, am schwarzen Freitag, wieder zurechtgerückt.
Am einfachsten und am sichersten ist es immer noch, die Unternehmen, in deren Aktien man investiert, tatsächlich zu kennen. Das erfordert einen gewissen Aufwand an Zeit und Mühe, aber es lohnt sich. Man könnte diesen Ansatz das Dunbar-Portfolio nennen. Von den etwa 30 bis 40 Aktien, die ich im Portfolio habe, kann ich genau sagen, welcher der Vorteil ihres Geschäftsmodells ist, mit welchen Produkten sie Geld verdienen, wer ihre Konkurrenz ist, welches ihre Probleme sind und wie sie sich in den letzten Jahren entwickelt haben. Das sind – nach der Dunbar-Systematik – die Freunde, die ich gerne beim Abendessen dabei habe. Noch einmal so viele Unternehmen verfolge ich recht genau, auch ohne sie im Portfolio zu haben, weil sie interessant sind (z.B. Tesla) oder von allgemeinem Interesse (z.B. Deutsche Bank). Weitere 50 bis 70 Aktien habe ich auf dem Radarschirm, aber ich kenne sie zu wenig, als dass ich mir eine fundierte Meinung bilden könnte. Die Grenze der nennenswerten Kenntnis von Aktiengesellschaften liegt also bei etwa 150 Unternehmen. Und damit sind wir wieder bei der Dunbar-Zahl.
Die Konzentration auf einen kleinen Kreis hat ihre natürlichen Grenzen. Ein gut diversifiziertes Portfolio hat jedenfalls nicht weniger als zwischen 25 und 30 Aktien. Unterhalb dieser Marke nimmt das Risiko markant zu. Aber die Aussage gilt auch für die umgekehrte Richtung: Ab 30 Titeln im Portfolio nimmt der Diversifikationseffekt sehr stark ab. 30 ist eine gute Zahl. Der Dow Jones Index in den USA hat mit seinen 30 Titeln keine spürbar höhere Volatilität als sein großer Bruder, der S&P 500, mit seinen 500 Mitgliedsunternehmen.
Der größte Vorteil des konzentrierten Aktienportfolios ist aber dieser: Ein Investor, der seine Unternehmen gut kennt, hat den unschätzbaren Vorteil, auch in unsicheren Zeiten zu wissen, was im Portfolio vor sich geht. Wer eine gründliche Analyse betrieben hat, muss nicht unbedacht handeln, wenn die Realität sich anders entwickelt als erwartet – wie es immer wieder vorkommt. Als sich im letzten Februar und März die Pandemie ausbreitete, fielen die Aktien in beispielloser Geschwindigkeit (europäische Aktien verloren 38 Prozent binnen eines Monats). Viele Anleger trennten sich von Risikopapieren. Aber warum? Von intelligenten Investoren wie Warren Buffett hat man jedenfalls nicht gehört, dass sie sich von ihren Aktien getrennt hätten. Dennoch zogen viele Anleger die Reißleine – oft, weil es die Vorgabe eines mechanischen Risikomanagement-Systems war, oft aber auch aus Unsicherheit darüber, was die Unternehmen in ihrem Portfolio eigentlich machten. Wenn das Vermögen in einer bloßen Zahl oder einem bloßen Tickersymbol steckt, fällt die Panikreaktion natürlich leichter, als wenn man in eine Firma mit Gesicht, Geschichte und Produkt investiert hat.
In letzterem Fall hat man ein Dunbar-Portfolio. Das entwickelt sich nicht so beeindruckend wie die Aktie von GameStop in den letzten Tagen, aber wir wollen nicht klagen. Denn die Entwicklung unserer Dunbar-Portfolios ist vermutlich nachhaltiger.