01.05.2021

Börsenblatt | Occams Rasiermesser

Börsenblatt für die gebildeten Stände.

„A man there was, though some did count him mad, The more he cast away, the more he had.“ - John Bunyan, The Pilgrim’s Progress (1678)

Derzeit sind die Märkte ausgesprochen anfällig für größere Verwerfungen. Das liegt daran, dass die allem zu Grunde liegende Größe, der Zinssatz für Staatsanleihen, in Bewegung gekommen ist. Da in der Praxis alle Assets in Relation zum risikolosen Ertrag bewertet werden, den man durch den Kauf von 10jährigen Bunds oder Treasuries bekommen könnte, ist deren Kursbewegung von hoher Bedeutung. Die Zinsen hängen wiederum stark von den Inflationserwartungen ab, die heute wackeliger sind denn je. Eigentlich hatten sich alle daran gewöhnt, dass Inflation kein Thema mehr ist. Aber plötzlich werden für viele Rohstoffe Höchstpreise gezahlt. Die coronagestörten Lieferketten führen zu Produktionsengpässen, was ebenfalls die Preisentwicklung anheizt. Gleichzeitig stellen die Menschen in Europa und den USA fest, dass sie in den letzten eineinhalb Jahren viel Geld gehortet haben, das nun nutzlos auf den Konten herumliegt. Viel Geld trifft also auf ein verringertes Angebot und wenn in solch einer Situation die Preise erst einmal ins Steigen kommen, entsteht oft eine Eigendynamik, an deren Ende das Gespenst der Inflation auftaucht. Dann wird plötzlich auf breiter Front alles teurer und das Geld auf dem Konto wird immer nutzloser, sodass es möglichst schnell ausgegeben wird und damit die Preise noch weiter steigen – so kommt eine Spirale in Gang.

Andererseits geht es der Konjunktur so gut wie lange nicht. Für die USA erwarten wir im laufenden Jahr ein Wachstum von 6,2% und 4,0% für das nächste. Die Wirtschaftsleistung im Euroraum wächst wahrscheinlich in diesem und im nächsten Jahr um jeweils 4,1%. Die für Europa sehr wichtige Automobil-Branche kommt kaum mit der Produktion hinterher. Und wenn erst der Tourismus wieder erlaubt ist, wird der ganze Kontinent einen Boom erleben, mit unerträglich vollen Stränden. Das ist gut für die Unternehmen.

Die Aktienmärkte schwanken nun zwischen der Furcht vor höheren Zinsen (die schlecht sind für Aktien) und der Erwartung eines (nicht nur inflationären) Booms (der in der Anfangsphase gut ist für Aktien). Die Kursausschläge sind daher derzeit in der einen wie in der anderen Richtung hoch und die Aktienhändler sind sich sicher: Die Ruhe an den Anleihemärkten ist trügerisch.

In der aktuellen Situation gibt es dafür zwei sinnvolle Strategien, das Portfolio resilienter zu machen. Entweder man sichert es gegen steigende Zinsen ab (die sich negativ auf den Wert der Aktien auswirken würden) oder man verkauft Positionen, die ohnehin kaum (mehr) zur Diversifikation des Portfolios beitragen und deren Aussichten sich in Zeiten steigender Zinsen eintrüben. Erfahrungsgemäß ist es besser, in unruhige Zeiten mit einem Portfolio von Kernpositionen zu gehen als mit einer größeren Anzahl von Positionen, die in der Praxis nicht einfach abzusichern sind. Wozu zwei Instrumente halten (eine Aktie und eine Absicherung), wenn auch eine Maßnahme (der Verkauf der Aktie) denselben Effekt hat?

Unterstützung für das Ausdünnen des Portfolios gibt es von einer Reihe prominenter Denker. Etwa formulierte es der Heilige Thomas von Aquin: „Wenn eine Sache adäquat erledigt werden kann mit einem Mittel, ist es überflüssig sie mit mehreren zu tun; denn wir beobachten, dass die Natur nicht zwei Instrumente verwendet, wo eines ausreicht.“[1] In Newtons Principia Mathematica (1687) finden sich nicht nur seine berühmten Bewegungsgesetze, sondern auch – zu Anfang von Buch III – seine drei „Prinzipien der Überlegung in der Philosophie“. Die erste Regel lautet: „Wir müssen nicht mehr Ursachen natürlicher Phänomene zulassen, als diejenigen, die sowohl wahr als auch ausreichend sind, um ihre Erscheinung zu erklären. … Der Natur gefällt die Einfachheit …“. Der große Physiker wendet also Occams Rasiermesser an, die alte philosophische Forderung, alles Überflüssige aus einem Argument herauszulassen. Und die Ökonomen stimmen zu: Vor einigen Jahren wurden 25 Träger des Wirtschafts-Nobelpreises befragt und fast alle antworteten, Einfachheit sei auch in der ökonomischen Theorie erstrebenswert. Perfektion ist damit nicht etwa erreicht, wenn nichts mehr hinzuzufügen ist, sondern wenn es nichts mehr wegzunehmen gibt, wenn ein Ding oder Argument auf das nackte Minimum reduziert ist.

Nun ist bemerkenswert, dass der Mensch in der Theorie die Einfachheit zu schätzen weiß, sie in der Praxis aber oft vergisst. Eine Reihe Experimente von Verhaltensforschern haben diese Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis untermauert. So wurden die Teilnehmer eines Versuchs gebeten, ein Muster auf einem Gitter aus farbigen Quadraten dahingehend zu ändern, dass es symmetrisch werde. Dies war genauso gut möglich durch Hinzufügen neuer oder durch Wegnehmen vorhandener Quadrate. Es entschieden sich 78% der Teilnehmer für das Hinzufügen, also für die Steigerung der Komplexität. Ähnliche Ergebnisse erbrachte auch ein Versuch, bei dem die Probanden gebeten wurden, einen von ihnen geschriebenen Aufsatz zu verbessern. Nur 16% strichen Text weg, wohingegen 80% diesen verlängerten.

Achtet man darauf, so lässt sich überall die Tendenz finden, Probleme durch Hinzufügungen zu lösen. Wer hat denn beispielsweise je davon gehört, dass ein Gesetzgeber (oder andere Institutionen) ein Problem durch die Streichung von Gesetzen oder Verordnungen gelöst hätte? Ab einem gewissen Grad aber ist die Steigerung von Komplexität kontraproduktiv. Wir sprechen dann von einer Komplexitätsfalle.

Diese Gefahr lauert auch im Portfoliomanagement. Das überkomplexe Portfolio als solches zeichnet sich durch eine unübersehbare Vielzahl von Positionen aus. Wie viele Aktien sind für ein gut diversifiziertes, aber dennoch durchschaubares Portfolio nötig? Der akademische Konsens geht dahin, dass zwischen 30 und 40 Aktien nötig sind, um eine Reduktion von 90% des diversifizierbaren Risikos in 90% der Zeiträume in einem Aktienportfolio zu erreichen. Der durchschnittliche Aktienfonds in den USA hält aber über 150 Aktien – wahrscheinlich inspiriert vom Index, dem S&P 500.[2] Warum also haben Portfolios die Tendenz, auszufransen? Das Risiko wird so nicht gemindert – der Dow Jones Industrials Index hat keine höhere Volatilität als der S&P 500, obwohl er nur 30 Aktien umfasst. Vermutlich kommt die Tendenz daher, dass bei der Modellierung von Portfolios eben die Modelle mit der höchsten Passgenauigkeit gewählt werden, die aber oft auch die komplexesten sind und mit dem Problem des „overfitting“ zu kämpfen haben. Und solche Modelle werfen erfahrungsgemäß auch die meisten Portfolioergänzungen aus.

Die für die weitere Entwicklung an den Märkten entscheidende Frage ist, ob der (temporäre) Inflationsschub und die stark ausgeweiteten fiskalischen Maßnahmen dazu führen, dass wir das Zeitalter der Stagnation hinter uns lassen. Werden durch die Investitionen der Regierungen in einen „Green New Deal“ die Unternehmen dazu angeregt, selbst Geld in die Hand zu nehmen, um die sich nun bietenden neuen Gelegenheiten zu ergreifen? Es mag sein, dass die Kombination aus Klima- und Corona-Krise das System derart durchschüttelt, dass wir in ein deutlich höheres Wachstumsregime kommen. Es könnte sein, dass wirtschaftlich sehr gute Zeiten bevorstehen – und, dass ein gewisser inflationärer Druck eine notwendige Bedingung ist auf dem Weg dorthin. Die Zeiten legen es also nahe, Occams Rasiermesser anzuwenden und die Kernpositionen zu stärken, die eine höhere Inflationsrate aushalten und dennoch von einem möglichen Boom profitieren.

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[1] Thomas Aquinas, Basic Writings, New York 1945, S. 129.
[2] https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2182295

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Dr. Georg von Wallwitz, CFA
Dr. Georg von Wallwitz, CFA

Geschäftsführender Gesellschafter | Lead Portfoliomanager

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